Brazil German

Interview: “Diese Enttäuschungen und Widersprüche hält kein Land lange aus“ (Tagesspiegel)

Oliver Della Costa Stuenkel forscht in São Paulo zum Thema Demokratie. Ein Gespräch über Frustration, Fake News und die Gefahren für die Demokratie.

Von Philipp Lichterbeck

https://www.tagesspiegel.de/internationales/brasilien-nach-dem-sturm-aufs-regierungsviertel-ich-war-verwundert-dass-so-etwas-nicht-schon-fruher-passiert-ist-9161550.html

Herr Stuenkel, wie haben Sie den vergangenen Sonntag erlebt, als Tausende Anhänger des brasilianischen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro das Regierungsviertel in Brasilia stürmten und den Kongress, den Obersten Gerichtshof und den Präsidentenpalast stürmten und verwüsteten?

Ich war hier in São Paulo mit meiner Frau und unserem Sohn im Park, als mich ein Kollege von der Universität anrief und sagte: Mach sofort den Fernseher an! Wir sind gleich nach Hause gegangen, um die Ereignisse zu verfolgen.

Waren sie vom Sturm auf die Institutionen überrascht?

Nein, ich war verwundert, dass so etwas nicht schon viel früher passiert war. Ich hatte mit derartigen Ereignissen im Dezember gerechnet, also bevor Lula da Silva am 1. Januar als neuer Präsident Brasiliens vereidigt werden würde. Aber es war klar, dass etwas geschehen würde. Man musste nur den bolsonaristischen Gruppen auf Whatsapp und Telegram folgen, um das zu erkennen. Dort wurde offen über die „Festa da Selma“ gesprochen, Selmas Party. Es war der Codename für die geplante Erstürmung des Regierungsviertels. Das war kein Geheimnis, das konnte jeder lesen. In diesen Gruppen erhielten die Menschen auch praktische Handlungsanweisungen für den Angriff auf das Regierungsviertel, etwa: die Attacke erst beginnen, wenn genügend Gleichgesinnte zusammengekommen sind. Auch Jair Bolsonaro muss davon gewusst haben. Er hat sich eventuell gesagt, dass er dann besser nicht in Brasilien ist und hat sich in die USA abgesetzt, wo er vor der brasilianischen Justiz sicher ist. Vielleicht hat er gehofft, bei einem erfolgreichen Umsturz triumphierend wiederkehren zu können.

Nur die Verantwortlichen für die Sicherheit in Brasilia wussten offenbar von nichts. 

Das ist das eigentlich Schockierende: Der Sicherheitsapparat in der Hauptstadt ließ die bolsonaristischen Invasoren einfach gewähren. Ich war besorgt, dass es wie in den USA bei der Erstürmung des Kapitols durch Trump-Anhänger zu Gewalt und vielleicht sogar Toten kommen könnte. Aber dann stellte sich den Angreifern in Brasilia niemand entgegen. Stattdessen machten die Polizisten Selfies mit den Invasoren und zeigten ihnen die Wege durch die Gebäude. Ich schließe daraus, dass der Grad der Komplizenschaft der Armee und der Militärpolizei mit den Bolsonaristen noch viel größer ist als befürchtet. Spätestens als man sah, dass Tausende Radikale zum Platz der Drei Gewalten liefen, hätten die Alarmglocken klingeln müssen. Aber nichts geschah. Auch der Inlandsgeheimdienst Abin ist offenbar in der Hand der Bolsonaristen ist. Das sollte Präsident Lula tief beunruhigen.

Wer sind diese Leute, die die demokratischen Institutionen verwüsteten, Scheiben zerschmissen, wertvolle Kunstwerke beschädigten und stahlen, Möbel und teure Elektrogeräte zerstören, auf den Boden urinierten und defäkierten?

Es war im Grunde ein Abbild der brasilianischen Gesellschaft. Es erschien mir sogar repräsentativer als die Menschen, die bei der großen Siegesfeier Lula da Silvas im Oktober auf der Avenida Paulista im Herzen São Paulos feierten. Dort kam ich mir vor wie in Berkeley: ein ultra-progressives, eher jüngeres und akademisches Publikum mit starker Präsenz der LGBT-Gemeinde….

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SOBRE

Oliver Stuenkel

Oliver Della Costa Stuenkel é analista político, autor, palestrante e professor na Escola de Relações Internacionais da Fundação Getúlio Vargas (FGV) em São Paulo. Ele também é pesquisador no Carnegie Endowment em Washington DC e no Instituto de Política Pública Global (GPPi) ​​em Berlim, e colunista do Estadão e da revista Americas Quarterly. Sua pesquisa concentra-se na geopolítica, nas potências emergentes, na política latino-americana e no papel do Brasil no mundo. Ele é o autor de vários livros sobre política internacional, como The BRICS and the Future of Global Order (Lexington) e Post-Western World: How emerging powers are remaking world order (Polity). Ele atualmente escreve um livro sobre a competição tecnológica entre a China e os Estados Unidos.

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